SCHAFFET RECHT DEM ARMEN UND DEM WAISEN UNDE HELPET DEM ELENDEN UNDE NODTTROFFIGEN THOM RECHT. REDDET DEN GERINGEN UNDE VERLOSETEN UTH DER GODTLOSEN GEWALT. 82. Psalm. Anno 1585
Dieser Bibelspruch ziert in wunderbarer Schnitzarbeit einen Balken an der Vorderseite des Alten Rathauses, das Kunstkenner eines der schönsten Renaissance‑Bauten in Schleswig-Holstein nennen.
Es verwundert, dass in einer Zeit, in der man in Amtsstuben und Kanzleien längst das sog. Hochdeutsche schrieb, hier an einem öffentlichen Gebäude noch das Plattdeutsche anwandte. Vielleicht mag es die oft genannte Schleswig‑Holsteinische Beharrlichkeit gewesen sein, vielleicht aber auch die gewollte Überlieferung vom vorherigen Rathaus, denn vor diesem jetzigen Alten Rathaus stand auf der Nordseite der Wilster‑Au ein noch älteres, das jedoch nur etwa 50 Jahre alt geworden ist; da musste es, obwohl man es schon lange „gestüttet und bepalet", abgerissen werden, weil es sonst „von sik sülvest aver den Huepen" gefallen wäre.
Nach dieser Erfahrung hat man sich wohl im Jahre 1585 einen besseren Baumeister gesucht ‑ dessen Name leider nicht überliefert ist ‑, denn der bauliche Zustand des Alten Rathauses, des ältesten Gebäudes in Wilster, ist ganz hervorragend, obwohl es doch 400 Jahre lang unmittelbar an der Au steht. Natürlich sind im Laufe dieser 4 Jahrhunderte Veränderungs‑ und Erneuerungsarbeiten vorgenommen worden, so im Jahre 1914 und im Jahre 1975, doch der ursprüngliche Stil blieb erfreulicherweise erhalten. Diente das Alte Rathaus bis zum Jahre 1829, als die städtische Verwaltung in das von der Etatsrätin Doos geerbte „Doos'sche Palais (heute Neues Rathaus) übersiedelte, eben dieser städtischen Verwaltung mit Justiz und Polizei als Heimstatt des Hohen Rates", fand es danach Verwendung unterschiedlichster Art. Durch eine teilweise Unterbringung der städt. Verwaltung, durch einen Einbau eines Gefängnisses (!) und durch eine Erstellung von Notunterkünften für Heimatvertriebene nach dem 2. Weltkriege ‑ bis hin zu dem, wie es sich uns heute darstellt:
Als Juwel architektonischer Baukunst des 16. Jahrhunderts, in dem die Ratsversammlung der Stadt Wilster traditionell in jedem Jahr vor Weihnachten tagt, die Bürger‑Schützen‑Gilde von 1380 ihr Gildezimmer erhalten hat, die letzte „Wilstermarschstube" ihre Bleibe gefunden hat, die Volkshochschule häufige kulturelle Veranstaltungen darbietet, in dem die wertvollen Büchereien der Etatsrätin Doos und von Gustavus Witt untergebracht sind und als Geschenke an die Stadt Wilster erhaltene und erhaltungswürdige Möbel und andere Kostbarkeiten aufbewahrt werden, um alles als heutiges Museum einem interessierten Publikum zeigen zu können.
Das in architektonischer Hinsicht Auffällige am Alten Rathaus ist das massive Mauerwerk im Erdgeschoß im Gegensatz zum vorkragenden Balkenfachwerk im oberen Stockwerk. Den Giebel ziert das Fenster des Uhrzimmers mit der hübschen, leider nicht mehr intakten Uhr. Die Luken und Winden am Gebäude zeigen an, dass im Rathaus Waren gelagert wurden. Über der Eingangstür befindet sich auf der rechten Seite das steinerne Stadtwappen, bemalt und vergoldet, mit der Jahreszahl der Erbauung 1585, auf der linken Seite das Signum des früheren Kaisers W. II. 1. R. mit Kaiserkrone und Jahreszahl der Erneuerung: 1914.
Treten wir durch diese Tür in das Rathaus hinein, so befinden wir uns zunächst in einer großen Halle, die früher zur Ausstellung und zum Verkauf von heimischen Wirtschaftsgütern gedient hat. Hier stand einstmals die „Ratswaage", die für eine gewissenhafte Ordnung beim Handeln sorgen sollte. Reichte dieser Platz nicht aus, nahm man die Straße vor dem Rathaus hinzu.
An der rechten Wand dieser Halle befindet sich ein großes Gemälde, wahrscheinlich ein Werk eines Schülers Rembrandts, den verlorenen Sohn darstellend, wahrscheinlich ein Geschenk des Reichsgrafen von Rantzau an die Stadt Wilster. Von diesem Grafen Rantzau hat sich die Stadt Wilster zum Bau des Rathauses Geld geliehen. Es hat bis zum Jahre 1738 gedauert, dass die letzte Schuld getilgt werden konnte.
Links davon zwei typische Aufnahmen von „Alt‑Wilster" mit dem Hafen und den Segelfrachtschiffen und den zahlreichen Windmühlen in der Wilstermarsch. Das eine Bild dokumentiert die Bedeutung der Seefahrt für die Wilsteraner, das andere die Notwendigkeit der Entwässerung der so niedrig gelegenen Wilstermarsch (zum größten Teil unter N. N.) durch die Windmühlen. Rechts davon ein Gemälde vom möglichen Fluchtweg Wilsteraner Bürger vor Wasserfluten über die Bekaubrücke auf die höher gelegene Geest und ein Kachelbild mit Motiven der Wilstermarsch als Geschenke von den Gemeinden der Wilstermarsch anläßlich der 700‑Jahr‑Feier der Stadt Wilster im Jahre 1982. An der Rückseite der Halle befindet sich in Glasmalerei neueren Datums, eine phantasievolle, dennoch vorstellbare Darstellung eines Stadtbildes von Wilster um 1650.
Von der Halle gelangt man links in die frühere Ratsweinstube. In den Jahren 1965/66 wurde hier die schon erwähnte Wilstermarschstube (vom Rademann'schen Hof in Wilster kommend) eingebaut. Diese „Döns" mit ihrer reich geschnitzten Holztäfelung an den Wänden, mit den Alkoven, dem Bilegger und den blauen Delfter Fliesen legt Zeugnis ab von der etwa 200 Jahre alten bäuerlichen Wohnkultur in der Wilstermarsch.
Gehen wir die Treppe zum Obergeschoß einige Stufen hinauf, gelangen wir in die frühere Kämmereistube, von der aus das Leben und Treiben in der Halle durch ein kleines Fenster vom Stadtkämmerer gut zu überblicken war. Hier hat die Bürger‑Schützen‑Gilde von 1380 ihr Gildezimmer mit ihren vielfältigen Utensilien einrichten dürfen. Bemerkenswert ist die große Zinnhumpensammlung, gestiftet von altgedienten Gildebrüdern, Majestäten, Hauptleuten und Freunden der historischen Gilde.
An den Wänden des heutigen Gildezimmers können wir die „Burspraak von 1587" nachlesen, jenes „Grundgesetz" der Stadt Wilster, in dem aufgeschrieben ist, was der Wilsteraner Bürger tun und nicht tun durfte, andernfalls verlor er „Lieff und Gudt". Da damals nicht jeder Bürger lesen konnte, wurde die „Burspraak" (Bur = Bauer oder Bürger) in gewissen Zeitabständen vor dem Rathaus öffentlich verkündet. Unwissenheit schützte nicht vor Strafe.
Die Treppe führt dann in das Obergeschoß und damit in die schönsten Räume dieses Bauwerkes, in den Festsaal und in die Gerichtsstube. Dieser Festsaal war damals der einzige Saal in Wilster. Festlichkeiten bevorzugter Familien wurden hier abgehalten. Außerdem diente er den vor Gericht erschienenen Parteien als Warteraum, denn durch die Prachttür von 1600 gelangte man in die Gerichtsstube. Hier wurde vom Bürgermeister und Rat Recht gesprochen. Die eigentlich recht schmale und niedrige Tür wird beiderseits von zwei schlanken, ausgekehlten Säulen eingefasst. Der prächtige Türaufsatz weist das dänische Königswappen auf, das von zwei Kriegergestalten seitwärts geschützt wird. Nicht minder schön ist die Rückseite der Tür: Ein Schnitzwerk stellt die Erschaffung des Menschen dar. Ob dieses hervorragende Schnitzwerk eine Arbeit eines heimischen „Snitkers", etwa des befähigten Jürgen Heitmann, ist, lässt sich nicht nachweisen. Hinter der Gerichtsstube befand sich eine Küche, in der der hohe Rat unbeobachtet speisen konnte. Dieser kleine Raum ist jetzt der Liedertafel von 1842 als Archiv zur Verfügung gestellt worden.
Im ehemaligen Festsaal und in der früheren Gerichtsstube ist heute die „Doos'sche Bibliothek" untergebracht, jene überaus kostbare Bürgerbibliothek aus der Goethezeit (wie Fachleute sie auch nennen) mit ihren 2.700 Büchern vieler Wissensgebiete, die die Etatsrätin Doos der Stadt Wilster 1829 testamentarisch vermachte.
Zwar wird der Rundgang durch das Alte Rathaus immer beschwerlicher, aber ein weiteres Hinaufsteigen über eine noch schmalere Treppe lohnt sich. Hier oben im Giebel des Hauses befindet sich die ebenfalls wertvolle Bücherei von Gustavus Witt‑Warstede, einem Kaufmann, wohnhaft zuletzt in Arosa/Schweiz, dessen Vorfahren aus der Wilstermarsch stammen. Aus Liebe zu der Heimat seiner Vorfahren und seines Bruders Dr. Cornelius Witt schenkte er der Stadt Wilster seine 1.700 Bücher umfassende Bibliothek, die sich zeitlich an die der Etatsrätin Doos anschließt, unter der Bedingung, dass sie neben der Bibliothek der Etatsrätin Doos im Alten Rathaus aufgestellt werden müsse. Ein wahrhaft großzügiges Geschenk eines Mannes, der sich aber keinen besseren ‑Alterssitz‑ für seines Vaters Bücher vorstellen konnte als das Alte Rathaus in Wilster. Hinter dem Alten Rathaus ‑ auch direkt an der nunmehr verrohrten Wilster‑Au ‑ steht in gleich schöner Architektur der sog. „Speicher". Einst diente er dem Rathaus zur Aufbewahrung eingelagerter Waren ‑ heute ist dort mit viel Liebe vom Vogelschutzbund und von Jägern der Wilstermarsch ein naturkundliches Museum eingerichtet worden, dessen Besichtigung sich lohnt ‑ wie sich überhaupt ein Besuch des Alten Rathauses von Wilster für ein interessiertes Publikum empfiehlt.
Quelle: WILSTERMARSCH UND WILSTER - Dagmar Krause (Verfasserin). Eggert Block (Amtsvorsteher des Amtes Wilstermarsch), Hans-Werner Speerforck (Vorsitzender Regionalverein Wilstermarsch e. V.)