Heute vor 80 Jahren musste der 88-jährige Otto Andresen das Inferno als Zweitklässler miterleben – sein Freund starb
Zerstörung durch Bomben am Klosterhof, im Hintergrund ragt der Kirchturm auf.
Auch die St.-Bartholomäus-Kirche wurde getroffen. Das Kirchenschiff wurde schwer beschädigt.
Archivfotos
Ilke Rosenburg
Er war damals gerade einmal acht Jahre alt. Aber die schrecklichen Erinnerungen an die Stunde, als die Bomben auf Wilster fielen, sind für den heute 88-jährigen Otto Andresen immer noch gegenwärtig. Es passierte vor 80 Jahren, am 15. Juni 1944. Noch immer wandern dabei seine Erinnerungen besonders zurück an seinen damaligen Schulfreund Peter, der die Bombardierung nicht überlebte.
Am Morgen des 15. Juni saßen Otto Andresen und seine Schulkameraden der 2. Klasse in der Schule im Unterricht. Um kurz nach 9 Uhr begann der Sirenenalarm. „Da mussten wir alle das Schulgebäude verlassen und wurden nach Hause geschickt“, erzählt er. Otto Andresen wohnte damals mit seinen Eltern und zehn Geschwistern am Kohlmarkt. Für ihn ging es mit der Familie in den Keller des gegenüberliegenden Hauses. Der achtjährige Peter lief weiter nach Hause. „Da habe ich ihn zum letzten Mal gesehen“, berichtet Andresen, heute noch erschüttert. Denn kurz darauf gehen die Bomben über der Marschenstadt, die bis dahin immer von Angriffen verschont geblieben war, herunter. Gerade weil es die Kriegsjahre über so ruhig geblieben war in dem Städtchen, wohnte Peter hier. Er kam eigentlich aus Hamburg. Wegen der gefährlichen Situation dort brachte seine Mutter ihn bei der Großmutter in Wilster unter. Das Schicksal meinte es nicht gut mit der Familie.
Auch an den Anblick der Toten, die durch Wilster gefahren wurden, an die Trümmer und die Aufräumarbeiten in der Folgezeit kann sich Otto Andresen noch gut erinnern. Es gab Schilder, die vor dem Plündern warnten. Wer geborgene Gegenstände nicht innerhalb von 24 Stunden abgäbe, würde erschossen. Die sind ihm auch im Gedächtnis geblieben, weil er Fotos, Zeitungsseiten aus der Wilsterschen Zeitung 50 Jahre danach und andere Dokumente aus dieser Zeit gesammelt hat. Die lassen den Betrachter nur erahnen, wie es damals in der Stadt aussah. Das Menckestift-Krankenhaus, die Stadtwerke, die vollgelagerte Getreidemühle Lumpe und die St.-Bartholomäus-Kirche waren zertrümmert, 34 Häuser vernichtet. 51 Menschen kamen seinerzeit ums Leben, es gab Hunderte Verletzte, und 43 Familien wurden obdachlos.
Man gehe davon aus, dass 100 Sprengbomben eines anglo-amerikanischen Flugverbands über Wilster abgeworfen wurden. Zwölf viermotorige Bomber seien es gewesen. „Bis heute ist unklar, warum die auf die Stadt gezielt hatten“, so Andresen. Denn die Kleinstadt sei weder militärisches Ziel gewesen, noch habe sie kriegswichtige Anlagen beherbergt. Zum einen werde gesagt, dass es sich um einen Notabwurf über Wilster handelte. Die Flieger seien über Brunsbüttel in Flak-Beschuss geraten, ein oder zwei aus dem Flugverband seien abgeschossen worden und die anderen ließen, um Sprit zu sparen und an Höhe zu gewinnen, ihre Bomben fallen. Zum anderen heiße es, dass es ein gezielter Angriff auf den Mühlenbetrieb Lumpe gewesen sei, um die Versorgung mit Getreide zu vernichten.
Neben den Fotografien hat Otto Andresen auch viele Zeitdokumente aufbewahrt. Ein wichtiges Anliegen ist ihm bis heute, jungen Menschen nicht nur über das Grauen des Krieges, sondern auch über den Angst und Schrecken verbreitenden Nationalsozialismus zu erzählen. Als Zeitzeuge beteiligt er sich an einem jährlichen Projekt an der Gemeinschaftsschule in Wilster, um Schülern zu berichten, wie es für die Zivilbevölkerung seinerzeit war. „Die Jugend muss wissen, wie es damals war“, mahnt er. Denn auch wenn er noch Kind war, bekam er doch die Drohungen der Nazis und das Ohnmachtsgefühl Erwachsener mit. „Ich weiß noch wie damals, dass mich, als ich mal über den Markt lief, plötzlich Nikolaus Musfeldt an den Ohren packte und mich hochhob.“ Warum? „Weil ich ihn nicht gegrüßt hatte.“ An den Ohren wurde der Junge ins Geschäft seiner Eltern geschleppt. „Er schrie meine Mutter an, dass meine Eltern mich nicht gut erziehen würden – ,Guten Morgen und Heil Hitler, Herr Musfeldt‘ hätte ich zu sagen gehabt.“ Sein Vater sei dazu gekommen. Ihm sei angedroht worden, wenn er seine elf Kinder nicht erziehen könne, müssten das andere für ihn übernehmen. „Das war alles für mich schrecklich, ich konnte das gar nicht verstehen.“ Er sei von seinem Vater aber nie dafür zurechtgewiesen worden. „Es wurde einfach nicht mehr erwähnt.“
Aber noch heute empört den später engagierten Sozialdemokraten Andresen eines besonders: Dass Nationalsozialisten, von denen es im Archiv auch Fotos in Hitler-Uniform gibt, nach dem Krieg einflussreiche Positionen wieder einnehmen durften. Auch der Mann, der ihn an den Ohren nach Hause zog. „Er wurde 1948 für ein paar Jahre Bürgermeister“, sagt und dokumentiert Otto Andresen.